#01 Port Hardy: Bären-Date am Strand

Ich bin Optimist.

Wahrscheinlich war ich schon immer Optimist und werde immer Optimist sein.
Sonst könnte ich so ein wahnsinniges Reisevorhaben bestimmt nicht starten.

Aber relativ häufig wird diese an sich positive Eigenschaft durch die Realität in Frage gestellt. So wie heute, am ersten Tag meiner Reise, die mich für ein Jahr über mehrere Kontinente führen soll.

Dem Tag, auf den ich jahrelang hingefiebert hatte: Tag X

Backpack and camera gear world travel

Ich wär’ dann soweit. Auf geht’s einmal um die Welt - mit einem Rucksack (23 kg) und einem Kamera-Rucksack (14kg).

Camera gear world travel

Kameratechnik ist auch dabei, für Land, Luft, Wasser.

Tag 1, 6:30 Uhr, Frankfurt Airport.

Früh auf den Beinen bin nicht nur ich, sondern auch die Realität.
Sie trifft mich unvorbereitet und mit voller Wucht:

"Der Flug wurde annulliert."

Es klingt wie ein schlechter Scherz.
Gleich der allererste Flug, der Kickoff für meine Weltreise, gestrichen?

Ich wollte gerade den ersten Dominostein dieser endlos langen Dominosteinkette anschnipsen, dieser Kette, die ich seit mehreren Jahren vorsichtig aufgestellt hatte. Und jetzt das!

Doch Betteln und Flehen und auch Schimpfen hilft nichts. Mein hart an der Gewichtsgrenze zur Legalität bepackter Backpack muss runter von der Checkin-Waage. Keine Info über die Annullierung von der Airline (British Airways), kein Support, kein Schalter, keine Next-Steps, keine Ahnung.

Nun ist guter Rat teuer - wie auch der erste Kaffee meiner Reise, der immerhin meinen Optimismus wieder aktiveren kann.
Ein paar Anrufe später und Plan B steht: Via San Francisco, Seattle und Vancouver erreichen wir nach einer gefühlten Unendlichkeit unser Ziel:
Vancouver Island.

Aerial view Westcoast North America

Wir - das bin ich, Autor dieses Blogs und die Biologin meines Vertrauens, meine wunderbare Schwester, die mich auf dieser ersten Weltreise-Etappe begleiten wird. Sie ist auch professionelle Wildlife-Expertin - und deshalb hatte ich mich kaum gewundert als die Wahl auf Kanada fiel, als ich ihr anbot, unser Reiseland - und damit den Startschuss meiner Weltreise - auszuwählen.

Es geht also nach Kanada - in den Westen wohlgemerkt.

Denn bei der Reiseplanung stellte sich schnell heraus, dass die Dimensionen hier ganz andere sind. Zum Vergleich: Deutschland würde fast dreizig Mal in Kanadas Landfläche passen. Bei allem Optimismus, frühe Entscheidungen machten da Sinn um Frust zu vermeiden. Und so klammerten wir alles aus was nicht Westküste war - und nun hieß unser erstes Ziel Vancouver Island.

Map North America

Ostküste oder Westküste? Für uns geht es in den wilden Westen!

Auf Vancouver Island, der größten der Nordamerikanischen Pazifik-Inseln, leben 860.000 Menschen - immerhin. Allerdings ist die Insel absolut riesig und die meisten Einwohner ballen sich im Süden, um die Hauptstadt Victoria und den Südosten. Deshalb zog es uns in den menschenleeren Norden. Hier hin, nach Port Hardy.

Map Vancouver Island Port Hardy

Port Hardy, 3.902 Einwohner, sozusagen die nördliche Metropole der Insel.

Für die erste Unterkunft müssen wir den kleinen Flugplatz kaum verlassen. Wenige hundert Meter mit unseren Rucksäcken und schon haben wir das Airport Inn Motel erreicht.

Zugegeben, Airport Motel - das klingt schwach. Ist aber spektakulär!

Besonders wenn man auf einen Licensed Liquor Store in der Lobby steht, auf ein ungeputzes Badezimmer oder überwältigendes Wildlife direkt vor der Tür.
Zwei von diesen drei Eigenschaften begeistern uns sehr und so wird das Airport Inn immer positiv in unserer Erinnerung bleiben.

Direkt nach dem Motel Check-In zieht es uns an die Küste, wenige Minuten zu Fuß entfernt, raue Landschaft, das Meer in der Nase und spektakuläre Aussicht auf das nordamerikanische Festland. Das Abenteuer hat begonnen!

Wild beach Vancouver Island Port Hardy
Wild beach Vancouver Island Port Hardy
Wild beach Vancouver Island Port Hardy

“Jetlag with a view“ / “Dawn of a dream” / “Into the unknown” - viele Titel fallen mir ein, für den abgefahrenen Film, den ich gerade starte.

Kurze Zeit später lässt es die Realität nochmal krachen!

Bedudelt von der Schönheit der unbändigen Natur begeben wir uns auf den Rückweg, der uns vom menschenleeren Strand über einen kleinen Weg führt, gesäumt von Büschen. Alles ist ruhig.

Alles?

Meine Schwester, ganz im passionierten Wildlife-Modus, hatte in den letzten Stunden immer mehr Bären-Spuren entdeckt - in immer kürzeren Abständen. Wahrscheinlich bin ich in diesem Moment einfach zu müde, oder zu naiv, um die Bedeutung des Ganzen zu verstehen.

Es dämmert bereits. Vor uns liegt eine Wegbiegung…

Hiking with bears Vancouver Island

Unterwegs mit der Wildlife-Expertin: Was lauert im Gebüsch?

Und dann passiert es - wie aus dem Nichts:
Ein ausgewachsener Schwarzbär springt aus dem Busch und direkt auf den Weg - keine 20 Meter vor uns!

Schock auf beiden Seiten!

Der Bär starrt uns an, wir starren den Bären an - freeze!

Beide Seiten sind verwirrt.
Beide Seiten versuchen zu begreifen.
Beide Seiten wägen ab.

Natürlich hatten wir gehofft, hier Bären zu sehen. Aber doch nicht gleich am ersten Abend und nicht mit Jetlag - und vor allem doch nicht so!
Wir wollten Bären nur beobachten und nicht mit einem ausgewachsenen Exemplar Aug-in-Aug gegenüber stehen und sich um Deeskalation bemühen zu müssen.

”Ohh! Ohh!!” höre ich es neben mir. Knapp, aber treffend.
“Sch****, was jetzt?” zische ich zurück.

Der Bär fixiert uns, bewegt sich keinen Zentimeter.
Auch wir stehen wie angewurzelt da.

Black Bear encounter Canada

Schwarzbär-Begegnung in British Columbia - was nun?

Es gibt eine Reihe an Richtlinien und Verhaltensweisen, die in solchen Momenten wichtig sind. Ich bin auch heilfroh hier mit einer Wildlife-Expertin zu stehen und nicht zufälligerweise mit einem IT-Spezialisten oder einem Chirurgen. Gut, der Chirurg könnte sich immerhin dann um meine Überreste kümmern, wenn diese Situation hier eskalieren würde. Möchte man sich nicht ausmalen, was alles passieren könnte.
Glücklicherweise können wir uns trotz der unerwarteten Extremsituation an die Bären-Regeln erinnern:

Idealerweise weiß der Bär bereits, das man da ist. Deshalb gibt es Bärenglocken für Wanderungen oder man spricht laut, wenn man durchs Dickicht wandert. Singen funktioniert auch. In unserem Fall hatten wir weder Glocken, noch hatten wir gesungen und wir waren auch zu müde um zu sprechen. Von daher waren wir über diesen Punkt schon hinaus. Und der Bär genauso überrascht wie wir. Schlecht.

Wenn man einem Bären begegnet, ist es dann wichtig nicht in Panik zu geraten und keine hektische Bewegungen zu machen. Man sollte sich vorsichtig aufrichten um groß zu wirken und sich langsam entfernen. Dabei sollte man den Bären im Auge behalten und seine Bewegung so ausführen, dass man dem Tier nicht einen potentiellen Fluchtweg abschneidet. Wegrennen wäre keine gute Idee. Und Angriff wäre hier wohl die schlechteste Verteidigung… zumindest, solange der Bär nicht als erster angreift.

Normalerweise lösen sich solche Situationen - wie unsere - ohne weitere Probleme auf, wenn man keinen Fehler macht.
Vor allem, wenn es sich um die weniger gefährlichen Schwarzbären handelt, Grizzlys sind nochmal eine andere Sache.
Schwierig wird’s, wenn Bären-Nachwuchs mit dabei ist, da können auch Schwarzbären schnell mal einen Gang hochschalten.

Sollte der Bär schließlich auf einen zu rennen, fährt er wahrscheinlich erstmal einen Scheinangriff, der einschüchtern soll.
Verlassen kann man sich darauf nicht. Hier wäre jetzt ein guter Moment das Bärenspray einzusetzen.
Dabei sollte die Windrichtung mit eingerechnet werden, sonst wird’s doppelt bitter.

Wenn man ein Spray hat. Wir haben keins, sind ja eben erst aus dem Flieger gestiegen und im Flieger sind die Dinger verboten.
Übel. Aber immerhin scheint unser Bär noch weitere Optionen zu haben, statt mit Scheinangriffen zu beginnen.

Zumindest wägt er noch ab, steht weiter wie eingefroren da, starrt uns an.
Auch unsere Gedanken rasen.

Sollte es zum Äußersten kommen, und der Bär wirklich angreifen, dann bleiben einem nicht viele Optionen.
Dann heißt es sich zu wehren und auf die Nase zielen mit allem was man hat. Und wenn das auch nicht wirkt, tja dann, dann hat man noch ein letztes Ass im Ärmel: Sich auf den Boden legen, mit den Händen den Kopf schützen und sich tot stellen. Optimismus gehört dann auch dazu.
Man möchte es aber auch als Optimist eher nicht drauf ankommen lassen.

Der Bär zuckt. Und auch wir bewegen uns.

Nach dieser Ewigkeit von mehreren Sekunden entscheiden wir uns für einen geordneten Rückzug.
Auch der Bär ist mit der Entwicklung der Situation zufrieden, er verschwindet im Unterholz, Deeskalation.

Schock ja, aber keine Verletzten, keine Todesfälle - übrig bleibt nur Herzrasen.

Das war’s - der letzte Rest Adrenalin ist nun endgültig verschossen.
Was für ein intensives Erlebnis! Was für ein erster Tag!
Und was für ein spektakulärer Start in unsere Kanada-Reise!

Am nächsten Morgen ist dann der nahgelegene Strand wieder unser Ziel. Vor dem Frühstück - und vor dem Sonnenaufgang - hat uns die wilde Küste wieder. Und das nächste Bären-Erlebnis läßt nicht lange auf sich warten: Direkt am Strand klettert plötzlich ein junger Schwarzbär von einem Baum, als er uns entdeckt. Er wirkt etwas panisch. Und dieses Mal sind wir viel relaxter.

Wild black bear Vancouver Island

Fühlte sich ertappt: junger Schwarzbär beim Klettern - zum Knuddeln, wenn man es kratzig mag.

Wir feiern unsere zweite Bärenbegegnung, sind euphorisiert und es wird in den nächsten Minuten sogar noch schöner:
Die Sonne wagt sich langsam über den Horizont, taucht den Pazifik, den Strand und die gesamte Küste in goldenes Licht.

Wir sind die einzigen Menschen, weit und breit, aber Wildlife ist überall!

Bald Eagle Beach Vancouver Island
Seal beach Vancouver island
Sea birds beach Vancouver Island
Beach Vancouver Island Port Hardy

Alles passiert gleichzeitig: Weißkopf-Seeadler fliegen über unsere Köpfe, zerlegen ihre Beute am Strand, amerikanische Eisvögel (Kingfisher) jagen ihr Frühstück, Fische springen, Robben spielen im Kelpwald, Hörnchen rasen umher und schmeißen mit Tannenzapfen. Auch die Bären sind sicher noch unter uns…

Überall raschelt und quakt es, es schnattert, quiekt und schreit, dazu fährt eine sanfte Brise durch die Bäume und das Meer spült plätschernd goldene Wellen an den Strand.

Bald Eagle Port Hardy Vancouver Island
Squirrel Port Hardy beach Vancouver Island
Juvenile Bald Eagle Port Hardy Vancouver Island

Erst nach fünf Jahren bekommen Weißkopf-Seeadler einen weißen Kopf. Wir tippen hier auf einen juvenilen Weißkopf-Seeadler.

Und all das passiert in dieser um sich greifenden Stille und zunehmend gehüllt in das warme Licht des maritimen Morgens. Man weiss nicht wohin man schauen soll, wohin man horchen soll und welche Nuance man riechen soll...

Ist das noch Glück? Oder schon völlig absurd?

Oder ist das schlicht die Intensität von Vancouver Island?
Oder passiert das alles, weil ich mit einer Wildlife-Expertin reise?
Oder habe ich mir diesen Moment durch meinen Optimismus einfach verdient?

…auf jeden Fall werde ich die ersten Momente in Kanada - und das Airport Inn in Port Hardy - nie vergessen!

Meine Reise hat begonnen… und wie sie begonnen hat!

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