#04 Vancouver Island: Kayaken mit Killerwalen

Nein, es war wirklich keine erholsame Nacht gewesen.

Es hatte viel und lautstark geregnet und es war kalt, verdammt kalt.

Die Feuchtigkeit konnte natürlich von dem dünnen Zeltstoff nicht aufgehalten werden und so kroch sie, zusammen mit der nächtlichen Kälte, langsam ins Zelt und unter meine Decke. Das ging eigentlich schon abends los. Kein Strom, keine Heizung, kein Licht. Ein Nachbar aus einem anderen Zelt hatte leidenschaftlich geschnarcht.

Dazu noch hatten sich nachts ein paar Mäuse ins Zelt geschlichen um dann geräuschvoll an unseren Rucksäcken rumzunagen. Ein Tier war dann noch in der Zeltecke in den kleinen Plastik-Mülleimer gefallen, kam für einen Moment nicht mehr heraus und wurschtelte entsprechend panisch und unruhestiftend herum.

Wenigstens kam kein Bär vorbei, dem wir hilflos ausgeliefert gewesen wären.
Aber nein, ganz sicher, das war keine erholsame Nacht gewesen.

Ich schlage die Augen auf, es ist noch nicht ganz hell draußen.
Neben meinem Kopf, auf dem Display meines iPhones, liegen Mauseköttel.

Ich grinse.

Klar, ich könnte zwar sauberer sein, und auch trockener und ich könnte ausgeschlafener sein. Aber glücklicher, nein, glücklicher sein könnte ich nicht!

Schnitt - ein paar Tage zurück.

Verlässlich brachte uns die Möhre auf ihrer letzten Fahrt über den Highway 4 von Ucluelet, der Westküste von Vancouver Island, an der Waldbrand-Stelle vorbei und über Port Alberni zurück auf den Highway 19, auf den wir in nördliche Richtung einbogen.

Und diesmal stoppten wir in Campbell River. Nicht weil wir unbedingt wollten, sondern weil wir mussten. Es war der Ausgangs-Ort für unser neues Abenteuer:

Dem Kayak Orca Camp.

Dem Orca Camp, auf das wir uns sehr freuten und wegen dem wir auch etwas nervös waren.

Das Orca Camp ist ein mehrtägiger Glamping-Trip, der nur wenige Wochen im Jahr angeboten wird und den man weit im Voraus buchen muss.

Teil des Buchungsprozesses ist ein relativ umfangreiches Enthaftungspapier, das man ausfüllen und unterschreiben muss. Dieses Enthaftungspapier, mit all den blumigen Beschreibungen von Eventualitäten, bei denen sich der Veranstalter enthaftet sehen möchte, hatte nicht gerade zu unserem Wohlbefinden beigetragen.

Aber, wir zogen es durch, enthafteten was das Zeug hielt - und waren nun bereit in die Wildnis zu starten!

Am Morgen des ersten Tages wurden wir zunächst am Pier in Campbell River eingewiesen, anschließend boardeten wir ein kleines Speed-Boot. Zu unserer Überraschung war es dann noch eine dreistündige Fahrt auf der Johnstone Strait, Richtung Norden.

Into the wild - drei Stunden an Bord einer kleinen Nussschale in die Wildnis.

Aber die Überfahrt war einfach nur spektakulär! Backbord rauschte die Küste von Vancouver Island vorbei, steuerbord das kanadische Festland, beziehungsweise eine Vielzahl an vorgelagerten Inseln und Landzungen, so genau kann man das hier überhaupt nicht sagen was Inseln sind und was nicht. Zumindest lag das Festland irgendwo steuerbord, so viel war klar.

Auf unserer Fahrt durch die Johnstone Straight kamen wir an einem heftigen Stromschnellen-Gebiet vorbei, Ripple Rock. Das Meer brodelte hier richtig.

Und diese Stelle kannten wir bereits von einer unserer Wanderungen, die wir von Woss aus angingen, dem Ripple Rock Trail, sehr zu empfehlen. Hoch oben von einem Berg guckten wir genau hier auf diese Stromschnellen herunter und waren von der Power des Wassers fasziniert. Das ist keine Woche her.

Und nun lernten wir die dazugehörige Geschichte, die tatsächlich historisches Ausmaß hat: Eine Vielzahl an Booten und Schiffen zollten hier, bei Ripple Rock, Poseidon ihren Tribut - es war eine der gefährlichsten Seestraßen der Welt.

Der Grund dafür waren zwei Unterwasserberge, die hier in der engen Seestraße bis kurz unter die Wasseroberfläche reichten. 1955 wurde dann nach 27 Monaten Bauzeit ein unterirdischer Tunnel fertig gestellt, Sprengstoff hineingebracht und die beiden Berge in einer massiven Explosion pulverisiert. Das alles wurde medial begleitet und war die erste Live-Sendung im kanadischen Fernsehen. Sachen gibt’s!

All das erzählte unser Captain, während er unser Boot lässig über die Stromschnellen navigierte. Und die Bootsfahrt blieb kurzweilig - nur wenige Minuten nach den Stromschnellen tauchte eine Gruppe Schweinswale auf und trollte sich um unser Boot.

Verspielte Schweinswale in Wellen unseres Boots. (Harbour Porpoise Dolphins)

Die Fahrt blieb auch weiterhin spannend und kurz darauf sahen wir auch noch unseren ersten Braunbären. Das war nochmal etwas ganz anderes als die fast knuddeligen Schwarzbären, die wir schon das ein oder andere Mal aus der Nähe erlebt hatten! Endlich ein wilder Grizzly!

Wir beobachteten ihn vom Boot aus wie er seelenruhig Steine am Strand umdrehte um nach Futter zu suchen. Braunbären sind gefährlich und können auch schwimmen, wir fühlten uns aber doch ziemlich sicher an Board und so konnten wir diesen besonderen Moment entspannt genießen.

Hatte an diesem Tag eher Lust auf Seafood als auf Homo sapiens:
Grizzlybär an einem Strand der Johnstone Strait.

Unser Boot steuerte schließlich eine kleine Bucht an, wurde an einer Boje festgemacht und wir bekamen einen Pickup mit einem Ruderboot. Es ging noch einige letzte Meter durch einen kleinen Kelpwald zu einem steinigen Strand, wo wir endlich angekommen waren. Angekommen, direkt neben dem Orca-Schutzgebiet, dem „Robson Bight Ecological Reserve“.

Premium Pickup-Service im Kelp-Wald: Ankommen im Orca Camp.

Hier, in diesem nadeligen Küstenwald, an diesem wilden und steinigen Strand, liegt nicht nur das Orca Camp - sondern auch unsere Hoffnungen mit Killerwalen kayaken zu können. Denn sicher ist das natürlich nicht. Ist ja kein Zoo hier und auch kein Netflix, wo alles auf Knopfdruck abrufbar ist. Das war uns sehr bewußt - und das macht den Reiz ja auch aus.

Als erstes machten wir uns mit dem Camp vertraut, bezogen unser - den Umständen entsprechend luxuriöses - Zelt und checkten die Kajak-Ausrüstung.

Wir waren dann soweit! Waren es die Killerwale auch?

Die ersten Kayak-Ausflüge waren nass-kalt, grau-nass oder kalt-grau.
Mal so mal so. Für Abwechslung war also gesorgt.

Auf jeden Fall waren sie aufgrund unserer unausgereiften Kayak-Technik noch etwas anstrengend - und vor allem ziemlich Orca-los. Etwas schade war das natürlich schon, aber wir wollten natürlich nicht aufgeben. Und die WiIdlife-Expertin an meiner Seite blieb stets optimistisch, wahrscheinlich auch von Berufswegen aus.

Nach kurzer Nacht, 6:00 Uhr und ohne Frühstück: Au ja, jetzt ab ins nasskalte Kajak!!

Sich auch noch am zweiten und dritten Morgen vor Sonnenaufgang aus dem Bett zu quälen, in die neblig-feuchte Morgenluft zu treten, das eiskalte und noch vom Vortag feuchte Spray-Shirt und die Rettungsweste überzustreifen und mit nassen Füßen über glitschige Steine ins Kayak zu schlittern lohnte sich!

Was ist das für ein Geräusch? Ist da was?

Denn sie waren unter uns!

Zuerst hörten wir sie nur: Eine Art dumpfes „Puffen“.
Gefolgt von einem etwas helleren „fffffffffff“ - es war elektrisierend!

Und die Atemgeräusche wurde lauter!

Schließlich sahen wir sie auch, riesige Rückenflossen - und sie schwammen direkt auf uns zu! Die Orcas kamen und wir waren draußen auf der Johnstone Strait, in unseren Kayaks. Wir konnten unser Glück kaum fassen!

Ehrfurcht trifft Gänsehaut - mächtiges Tier, filigraner Moment.

Wir waren aus dem Häuschen! Und die pflichtbewussten Kajak-Guides waren gut damit beschäftig unsere kleine Gruppe zusammen zu halten, sodass alles für alle Beteiligten reibungslos blieb. Für die Menschen und für die Orcas. Um es vorweg zu nehmen, es gab keine Beschwerden, weder auf der einen, noch auf der anderen Seite.

Und während unserer Zeit im Camp sehen wir die Orcas sogar öfters - und erkennen schon Gruppen wieder aufgrund der individuellen Rückenflossen. Sogar einzelne Tiere.

Und wenn das alles nicht schon unfassbar genug gewesen wäre…. den einen, den ganz besonderen Moment gab es dann auch noch:

Plötzlich kam ein Orca ganz nah, direkt zu uns in den Kelpwald. Normalerweise waren die Gruppen bisher immer ganz systematisch an uns vorbei gezogen.

Doch dieser Orca hier hatte etwas besonderes vor.

Er wurde langsamer und stoppte schließlich, rollte zur Seite, sodass sein riesiges Auge oberhalb der Wasseroberfläche war - und schaute uns neugierig an!

Moment of a lifetime: Flirten mit einem wilden Orca!

Diese Sekunden waren natürlich absolut gänsehautmäßig, aber auch sonst ist unsere Zeit im Camp sehr intensiv, atmosphärisch und eindrucksvoll.

Tagsüber wird bis zu drei Mal gekayakt, abends sitzen wir in der wohltuenden Sauna und kühlen uns anschließend im eiskalten Fluss ab, der hier in die Johnstone Straight mündet. Und neben Orcas gibt es auch noch viele weitere Wildtiere zu sehen, auf unseren Kajak-Ausflügen wie auch direkt im Camp.

Die Bilder zeigen: Kingfisher (“Gürtelfischer”, quasi der kanadische Eisvogel), Diademhäher (Wappenvogel von British Columbia), neugierige Robbe, springender Lachs (davon gab es hunderte, jeden verdammten Tag) und einen hungrigen Schwarzbären am Strand beim Kajak-Ausflug. Der Steinturm und der Farn sind selbsterklärend und nur als atmosphärisches Füllmaterial in diese Galerie geraten.

Was für intensive Wildlife-Momente - was für eine Reise!

Weder Mücken, Mäuse, kalte Füße, noch die durchdringende Feuchtigkeit oder die gewöhnungsbedürftige Idee der Toiletten, nicht mal die (sinnvollen) Maßnahmen gegen ungewünschten Bärenbesuch im Camp - nichts kann uns diese schöne Zeit verderben!

Und so wache ich am letzten Tag neben diesen Mäusekötteln auf, mit einem Lächeln, und freue mich, dass wir das durchgezogen haben. Es war ein absolutes Highlight und ich werde dieses besonders intensive Naturerlebnis niemals vergessen!

Wir lassen unseren Vancouver Island Trip auf der vorgelagerten Insel Quadra ausklingen, wo wir gerne noch ein wenig länger die entspannte Atmosphäre genießen möchten - wir müssen aber nach Port Hardy, wo auch alles begann.

Der Wildnis ihren Tribut zollen: Zurück in der Zivilisation, spontanes Waschen in der Wanne.

Denn von hier startet morgen unsere Fähre aufs kanadische Festland und mit ihr unser nächstes Abenteuer: Es geht nordöstlich, tief hinein in die Inlets, bis nach Bella Coola, in die Kanadischen Coast Mountains!

Die Coast Mountains rufen. Tschüss Vancouver Island - es war uns ein Fest!

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Abschließend zu diesem Blog-Post möchte ich noch ein paar Zeilen den Orcas widmen. Es war wirklich sehr rührend diesen großen und intelligenten Tieren in freier Wildbahn so nah zu sein. Wir haben aber auch mitbekommen unter welchem massivem Stress die Tiere stehen müssen. Leider, bei aller Wildlife-Romantik, ist auch dies Teil der Wahrheit.

Zunächst - der ausbleibende Regen:
Regen war in den letzten Monaten, also Mai-August, so gut wie keiner gefallen, wie die Locals berichten. Waldbrände sind ein Resultat, ganz real haben wir die Konsequenzen ja selbst erfahren. Auch führt der ausbleibende Regen dazu, dass die Flüsse auf Vancouver Island viel zu wenig Wasser führen, wahrscheinlich genau so in anderen Teilen von Kanada. Flüsse mit wenig Wasser verhindern, dass die Lachse ihre jährliche Wanderung antreten können um millionenfach zu ihren Laichplätzen aufzubrechen. Lachse, die fern bleiben, bedeuten auch, dass weder die Bären noch die Orcas auf diese lebenswichtige Nahrungsquelle zurück greifen können. Und deshalb blieben die Bären dieses Jahr für lange Zeit fern und die Orcas zeigten ebenfalls verändertes Verhalten.

Das stimmt sehr nachdenklich und zeigt eindrucksvoll, wie alles auf unserem Planeten direkt zusammen hängt und welch filigranes System die Natur ist.

Zweite Stressquelle für die Orcas:
der massive Schiffsverkehr in der Johnstone Strait.

Das schließt nicht nur kleine Boote ein (auch die, die touristische Touren wie das Orca Camp bedienen), sondern vor allem industrielle Frachter, die eine Abkürzung nehmen und unnötigsterweise riesige Kreuzfahrtschiffe. Einer der bisher absurdesten und traurigsten Momente meiner Reise war die Vorbeifahrt mehrerer monströser, lauter, schiffsdieselverbrennender Vergnügungsparks (einer zeigte lautsark Dirty Dancing auf dem Deck-Kino) - während wir inmitten der Natur geduldig auf die Orcas warteten.

Das kann so einfach nicht in Ordnung sein.
Ein Kreuzfahrtschiff gehört hier nicht hin, eigentlich gehört es nirgendwo hin.

Ich denke an den Blickkontakt mit dem wilden Orca und bin mir sicher: Unser System kann sehr gut ohne uns. Aber wir können nicht ohne das System. Und am Ende werden wir den Kürzeren ziehen. Wir scheinen das zu oft zu vergessen.

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