#07 Alaska: Die Grizzlies und der Chilkoot River

Ich saß am Steuer und senkte beschämt den Blick.

US-Grenzkontrolle, mitten auf einem Bergpass der Coast Mountains, es war neblig und absurd.

In einer Übersprungshandlung suchten meine Augen irgendwas Imaginäres, irgendwo zwischen Lenkrad und Gaspedal.
Die Blicke des US-Grenzbeamten bohrten sich in meine Feigheit.

Nein, ich musste mir eingestehen, ich hatte einfach nicht genug Mumm jetzt zu lügen. Und es stimmte ja auch - es war einfach die Wahrheit:
Wir hatten eine Tomate dabei.

Die Tomate des Grauens.
Eine Tomate aus Kanada.

Außerdem noch einen Käse und kanadisches Brennholz, also zoll-mäßig auch in Zeiten der Globalisierung ganz schön starker Tobak!
Ob wir Waffen dabei hatten wurde nicht gefragt, ich dachte an unser Bärenspray aus der Waffenabteilung des kanadischen Baumarktes.

Aber es interessierte sowieso mehr die Tomate.

Und das Brennholz. Das stammte nämlich aus einem kanadischen Wald.
Einem Wald, der wahrscheinlich nur wenige Kilometer weiter nördlich lag und sich sicherlich nicht um Grenzformalitäten kümmerte, bestimmt sogar über die Grenze hinweg einfach wild hinein wuchs, in die Vereinigten Staaten von Amerika.

Anyhow, der US-Beamte hatte seine Vorschriften.
Und vielleicht Lust auf eine Tomate und unseren kanadischen Käse.

Es war Lunch-Zeit.

Wie auch immer, wir beugten uns den Behörden und mussten unseren Campervan-Kühlschrank ausräumen.

Immerhin durfte das gute kanadische Bier - in nicht unerheblichen Mengen - drin bleiben, und immerhin wurden wir nicht verhaftet, ärgerten uns aber trotzdem, weil wir einen halben Einkauf in die Tonne abgeben mussten.

Zu viel für den US-Grenzbeamten: Das geht ja gar nicht!!

Aber es war unsere Schuld - wir hatten vorher nicht sauber recherchiert, wie genau die Formalitäten waren.

Dies hier war immerhin eine international anerkannte Landesgrenze. Auch, wenn sie mitten im Nirgendwo lag, die Wälder sie nicht respektierten und oberhalb der Wolken eh alles fragwürdig ist.

Nun gut, jetzt also die Tonne. Wir beschweren uns auch nicht weiter. Ich trete auf das Gaspedal, obwohl das eigentlich für die nächsten 22 Kilometer gar nicht nötig ist.

Es geht nämlich ausschließlich steil bergab, von ganz oben der kanadischen Berge den Pass immer weiter runter zu einem amerikanischen Kaff namens Skagway, am Ende des Chilkoot-Inlet gelegen, einem riesigen Pazifik-Fjord, wo unsere Autofähre auf uns wartet.

Skagway, Alaska: Been here, done that.

Und das mit der Fähre ist auch wirklich das einzig Gute an diesem Ort.

Skagway - das Kapitel können wir abkürzen. Ein bemitleidenswertes Kaff, das jeden Tag durch tausende Tagestouristen von mehreren Kreuzfahrtschiffen überflutet wird.

Noch artgerechte Haltung?

… oder schon Kreuzfahrt-Romantik?

Wir sind froh, als wir endlich unseren Campervan an Bord der Fähre navigieren dürfen und es los geht für die einstündige Fahrt Richtung des noch kaffigeren Kaffs, nach Haines, Alaska.

Diese Fährverbindung, von Skagway nach Haines, verbindet alternativlos die beiden Abschnitte der Golden Circle Route und ist an sich auch ein Highlight! Links und rechts des Inlets ragen massive Bergwände in die Wolken, einige Gletscher sind zu bestaunen. Gletscher, die unzählige Wasserfälle speisen, die an den Berghängen hinunter und direkt ins Meer stürzen.

Das Wetter ist durchwachsen - aber wie wir zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen, stimmt es uns gut ein auf unsere kommende Zeit in Alaska.

Denn es wird neblig, wolkig, nass, wild!

Wir rumpeln in Haines von der Fähre. Von der kleinen Anlegestelle - Hafen wäre ein zu großes Wort - steuern wir unseren Camper nicht wie die meisten anderen Passagiere nach links, also nach Haines Downtown, sondern nach rechts.

Blick zurück, entlang des pazifischen Chilkoot Inlets mit spektakulärem Panorama.

Ein paar Minuten fahren wir entlang des Chilkoot Inlets - genauer gesagt dessen Seitenarm “Lutak Inlet” - mit atemberaubender Aussicht, bis hoch zur Mündung des Chilkoot Rivers (nicht zu verwechseln mit dem ungleich größeren Chilkat River).

Wilde Mündung des Chilkoot Rivers in das Lutak Inlet, in den Pazifischen Ozean.

Dann geht es weiter entlang des kurzen aber spektakulären Flusslaufs bis hin zu unser bewaldeten Campsite, die direkt am Chilkoot Lake liegt.

Zufahrt zu unserem Campground am nebligen Chilkoot Lake.

Chilkoot Inlet, Chilkoot River und Chilkoot Lake.
Diesen Dreiklang werde ich mein Leben nicht vergessen.

Das kombinierte Meer-, Berg- und Fluß-Panorama, diese salzige, wilde und waldige, diese alpine, maritime Atmosphäre, ist einfach atemberaubend. Obwohl - oder vielleicht gerade weil - alles stark vernebelt und nass ist.

Mystisch - so fühlt sich das hier alles an.

Und das aus gutem Grund!
Chilkoot ist aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet etwas Besonderes:

Zum einen für die First Nation People, die indigenen Ureinwohner, die dem Ort spirituelle Bedeutung beimessen. Am Chilkoot River hatten sie auch eine kleine Siedlung, die es allerdings nicht mehr gibt.

Zum anderen aus westlicher Sicht, da Chilkoot und im speziellen der Chilkoot-Trail während des Klondike Goldrauschs (1896–1899) eine größere Rolle gespielt hat. Damals sind die westlichen Goldsucher hier auf der Alaska-Seite aufgebrochen um über den Chilkoot Trail hoch in den Yukon zu kommen - viele haben den Versuch nicht überlebt.

Und zuletzt auch aus biologischer Sicht, was uns besonders interessiert:
Aus dem Chilkoot Inlet, dem Pazifik, wandern jedes Jahr die Lachse über den Chilkoot River in den Chilkoot Lake zum Laichen. Einige laichen auch im Chilkoot River, das hängt von der Art der Lachse ab. Jede Lachsart hat ihre spezifischen Laich-Orte, und die Bären wissen genau, wo diese sind - und das ist für uns natürlich auch eine super Chance.

Mal sehen ob’s klappt!

Völlig fasziniert von der Aura dieses Orts rollen wir die letzten Meter durch ein nebliges Waldstück, direkt am Chilkoot Lake gelegen, auf unsere Campsite. Die erste und einzige auf unserem Trip, die in den USA liegt.

Im Gegensatz zu den kanadischen Campgrounds ist hier etwas mehr Betrieb, das System funktioniert aber genau wie in British Columbia oder im Yukon; hier sind es statt kanadische eben 20 US-Dollar, die in einen Umschlag wandern.

Wir finden einen schönen Stellplatz und hören abends dem Regen zu, der auf das Dach prasselt. Wir überlegen, ob wir hier Bären sehen werden und ob die Bären vielleicht sogar gerade in diesem Moment um unseren Camper schleichen…

Der nächste Morgen, früh geht es raus, es ist wieder nass, vernebelt und wunderschön. Ein kurzer Spaziergang am Chilkoot Lake, nur wenige Meter von unserem Stellplatz entfernt, verträumte Morgenstimmung.

Alles ist ruhig. Alles.

Wirklich ALLES?

Mit der Kamera und 150-500mm Linse im Anschlag, machen wir uns auf den Weg zum Chilkoot River. Das Rauschen wird lauter und je lauter es rauscht, desto berauschender wird unsere Hoffnung, dass wir hier wirklich auf wilde Grizzlybären treffen.

Warnhinweis, ernst zu nehmen. Die Hoffnung steigt.

Und tatsächlich - nicht lange müssen wir auf der Lauer liegen und es raschelt im Unterholz. Aus dem Nadelwald am gegenüberliegenden Flussufer kommt eine ausgewachsene Bärin zum Vorschein!

… und hinter ihr, mit etwas Abstand, zeigt sich plötzlich auch ihr Nachwuchs!

Wir können unser Glück kaum fassen - sie jagt!

Die Bärin zieht mit dem Nachwuchs flussaufwärts, am Ufer entlang. Alle paar Meter fixiert sie einen Lachs von einem großen Stein aus, schießt mit ihren Tatzen und aufgerissenem Maul ins Wasser und schnappt sich einen Fisch. Die beiden Kleinen freut’s, sie bedienen sich am Sashimi-Buffet.

Sashimi deluxe - Lachshäppchen für die Bärenfamilie.

Wir genießen jede Minute dieses Schauspiels und uns gelingen ein paar schöne Erinnerungsfotos von diesem intensiven Wildlife-Moment.

Uns gefällt es hier sogar so gut, dass wir uns spontan entschließen einen weiteren Tag zu bleiben - und wieder sehen wir einige Bären, beobachten sie beim Jagen oder beim Ausbauchen am Flussufer, manchmal kreuzen sie plötzlich die Straße. Was für ein Erlebnis!

Aber auch wenn es uns schwer fällt diesen besonderen Ort zu verlassen, so müssen wir irgendwann weiter ziehen, denn vor uns liegt ja noch der ganze zweite Teil der Golden Circle Route, und der führt uns logischerweise zurück nach Kanada.

Bevor wir Alaska wieder verlassen, brechen wir allerdings noch auf zu einer Regenwanderung entlang des Küstenwalds des Chilkoot Inlets.

Und auch diese Momente sind wahnsinnig atmosphärisch.

Die Natur wirkt hier überall rau und ungebändigt, aber irgendwie gleichzeitig sehr harmonisch. Schwer in Worte zu fassen. Schweigend wandern wir den Küstenstreifen entlang. Ab und zu geht es auch durch Waldgebiete, unser regnerischer Nachmittag ist neblig, felsig, waldig, strandig, meerig und bergig - eine aufregende Kombination!

Überladen mit Alaska-Eindrücken steuern wir unseren Camper schließlich über Haines (nach langem Hin-und-Her einziges Wlan zu finden in der Bibliothek, eine Tankstelle hatte glücklicherweise auch offen) auf die Haines Road, Highway 7.

Haines im September, DER urbane Ballungsraum weit und breit.

Die Haines Road ist die einzige Straße Richtung Norden, sie führt von Haines 248 Kilometer nach Haines Junction, in den Yukon, hoch nach Kanada.

Und diese wunderschöne Haines Road, die nehmen wir jetzt, entlang des ausladenden Chilkat River Betts mit seinen Bergen und Gletschern.

Goodbye Alaska, goodbye USA - hello again Canada!

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Abschließende Gedanken zu den Grizzlies in Haines, denn auch dieser Teil der Wahrheit sollte hier genannt werden:

Der Chilkoot River ist für Bärensichtungen ein offenes Geheimnis. Und dementsprechend waren wir auch nicht die Einzigen, die sich dieses Schauspiel ansehen wollten. Wildnis-Romantik kommt hier kaum auf. Man muss schon Glück haben um einen ruhigen Moment zu erwischen.

Entlang des Ufers des Chilkoot River, am Rande der asphaltierten Straße (mit dem Spitznamen “Bear Highway”) stehen zu dieser Jahreszeit viele Fotografen mit Teleobjektiven. Teilweise wirkt es ein wenig wie der Pressebereich eines Sportevents: Ziehen die Bären weiter flussaufwärts, zieht die Fotografen-Meute auch weiter flußaufwärts. Und wir natürlich auch, da kann ich uns natürlich nicht herausnehmen.

Viel mehr wert - also definitiv “magischer” - waren da unsere ungeplanten Bären-Begegnungen in British Columbia, in der Wildnis, wenn wir sie nicht bewusst gesucht hatten, sondern wenn sie einfach passierten.

Natur ist unberechenbar, muss unberechenbar bleiben - und das macht die eigentliche Faszination von Wildtier-Begegnungen ja auch aus.

Das gilt für das Tauchen, das gilt für die Orcas, genau so, wie es für die Bären gilt und für jedes andere wilde Tier.

Wildnis muss wild bleiben, sonst ist sie keine Wildnis.
Dem sind wir uns bewußt - haben die Bären-Begegnungen aber auch genossen.

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#06 Yukon: Golden Circle Route